Luis Camnitzer – „art thinking“

In welchem Kontext arbeitest Du als Kunstvermittler?
Luis Camnitzer: Ich bin ein Künstler und alles was ich tue, ist auf die eine oder andere Weise Kunst. Das bedeutet, dass ich es mit der Kunst als Referenz sehr genau nehme: Wie interessant ein Problem hinsichtlich der Erweiterung des Wissens ist, wie gut eine Lösung darauf passt, wie gut die Lösung sich kommunizieren lässt, und wie fruchtbar sie wird, sobald sie kommuniziert wurde. Die Trennung zwischen Kunst und Vermittlung wird überflüssig. In meinem Alter scheint es effizienter zu sein, Zeit und Energie auf Diskussionen über Vermittlung/Bildung[1] zu verwenden, anstatt kleine Objekte anzufertigen, die an einer Wand ausgestellt werden können. Schreiben und Lehren haben deshalb das Anfertigen von Objekten ersetzt.

Mit wem arbeitest Du zusammen?
LC: Vor einigen Jahren war ich pädagogischer Berater für die Cisneros Foundation und ihr Programm „Piensa en arte – Think Art“ (Kunst denken). Ich arbeitete mit María del Carmen González und Sofía Quirós, die für den pädagogischen Bereich der Sammlung zuständig waren. Als die Stiftung entschied, Vermittlung nicht mehr zu fördern, wurden wir unabhängig. Obwohl wir die Rechte an „Piensa en Arte – Think Art“ bekommen hatten, änderten wir den Namen der Gruppe in „Art as Education – Arte como Educación“ (Kunst als Bildung). Wie haben das LehrerInnen-Handbuch für die Ausstellung „Under the Same Sun“ (Unter der gleichen Sonne) im Guggenheim Museum gemacht, das Handbuch und das Vermittlungsdisplay für die Kunstausstellung „Cuba – Ficción y Fantasía“ in der Casa Daros in Rio de Janeiro, und das neue Vermittlungsdisplay für das Museo de Numismática (Münzenmuseum) in Costa Rica. Zudem schreibe und lehre ich zur Kunst als Metadisziplin und andere Themen.

Was verstehst Du unter Kunstvermittlung?
LC: Traditionellerweise ist das Konzept der Kunstvermittlung auf Verständnis[2] und Herstellung fokussiert. Ich glaube aber, es sollte Kognition (im weitesten Sinne) sein. Ich glaube an etwas, das ich seit einigen Jahren „art thinking“ nenne. Dieses ist unabhängig vom Wettbewerb der KünstlerInnen auf dem Kunstmarkt oder von der Bildung eines erfahrenen und konsumierenden Publikumsstamms der Museen und Galerien zu sehen. Stattdessen handelt es sich um einen Weg Wissen mit ungebundener und uneingeschränkter Vorstellungskraft gegenüber zu stellen, Ordnungssysteme zu hinterfragen, nach alternativen Systemen und ungewöhnlichen Verbindungen zu suchen und erst dann zu beginnen, deren Machbarkeit im realen und praktisch alltäglichen Leben zu verhandeln. Innerhalb dieses Rahmens einer generell curricularen Konstruktion zeigt uns Kunst interessante oder uninteressante Lösungen, die uns helfen oder (eben) nicht helfen, mit unserer Realität und anderen Ordnungen/Unordnungen des Universums umzugehen.

In welchem Verhältnis stehen Vermittlung und Kunst (für Dich) zueinander?
LC: Persönlich und bezogen auf oben stehendes, sehe ich keinen Unterschied und ich wünschte, dass KünstlerInnen sich auch als KunstvermittlerInnen verstehen würden, und KunstvermittlerInnen als Künstlerinnen. Andernfalls wären KünstlerInnen darauf beschränkt, sich selbst zu therapieren, und VermittlerInnen darauf, AusbilderInnen und ÜbermittlerInnen von Informationen zu sein.

Warum (zeitgenössische) Kunst vermitteln?
LC: Zuerst müssen wir uns bewusst machen, dass jede Kunst zeitgenössisch war, als sie entstand. Wenn wir in der Zeit zurück gehen, verlieren wir diese Zeitgenossenschaft. Uns bleiben also halb-undurchschaubare Palimpseste (Rückstände, Hinterlassenschaften, Reste), mit denen wir die Geschichte der Kunst rekonstruieren.
Wenn wir uns mit aktueller Kunst auseinandersetzen, haben wir es mit der Zeitgenossenschaft zu tun, und können nicht nur identifizieren, was wir nicht verstehen, sondern kennen auch die Gründe für unser Nicht-Verstehen. Dieser Zugang erlaubt es uns, unser Forschen auf eine Weise zu realisieren, die nicht nur auf die Objekte, mit denen wir konfrontiert sind, beschränkt ist, sondern von allen Bedingungen und Interessen ihrer Entstehung, Machtverteilung und Interessen denen sie dienen, verstehen kann.
Beim Sichten dieses Salats aus Bedingungen, denen wir ausgesetzt sind, können wir Werkzeuge entwickeln, die uns helfen, unser eigenes Wissen zu erweitern, aber auch wahrzunehmen, wie die Gesellschaft, in der wir leben, konstruiert ist.
Wenn wir mit nicht-zeitgenössischer Kunst zu tun haben, projizieren wir die Gegenwart in die Vergangenheit. Wenn wir uns die Geschichte der Kunst von der Gegenwart rückwärts erarbeiten würden, anstelle wie sie derzeit gelehrt wird, würde uns diese Projektion bewusst werden und wir würden verstehen, was wir aus einem zeitgenössischen Zeitpunkt sehen, anstatt die Fiktion zu leben, dass wir verstehen könnten, was in der Vergangenheit geschah (und warum). Wir machen immer wieder den Fehler, „Kunst“ über „Zeitgenosssenschaft“ zu stellen und so unsere Perspektive zu verzerren.

In welchem Verhältnis siehst Du die Praxis des Kuratierens und der Vermittlung?
LC: Nochmals: Ich sehe hier keine klare Trennung zwischen den beiden Feldern. So lange ein/e KuratorIn ihre/seine Arbeit nicht auf „art handling“ (die Arbeiten nur in einer ansprechenden Weise aufzuhängen) oder das eigene Ego zu befördern (sich als Diva zu inszenieren) beschränkt, ist es die Tätigkeit, der/dem Künstler/in zu helfen, mit dem Publikum zu kommunizieren. Es ist vermittlerische Arbeit, die dann erfolgreich ist, wenn sie auf guter Taxonomie beruht und die Arbeiten und Räume als Resonanzkörper funktionieren; das macht den Akt der Vermittlung dann nahezu unsichtbar.

Warum ist Kunstvermittlung für ein Museum / eine Institution wichtig?
LC: Wenige Museen würden sich selbst noch immer als „show-off“-Institutionen verstehen (auch wenn die meisten es sein mögen) und wollen sich lieber als „show“-Institutionen verstanden wissen. Der Zweck des Zeigens wird dann zur vermittlerischen Aufgabe. Dies ist teilweise anerkannt und sie schmücken sich damit, ein Vermittlungsprogramm zu haben. Doch wie es gemacht wird, ist scheinheilig. Vermittlungsprogramme werden von den kuratorischen Aktivitäten getrennt und für Öffentlichkeitsarbeit benutzt. Im Mittelpunkt steht die Erhöhung der BesucherInnenzahlen, da die Eintrittszahlen sich als einfaches Argument für Sponsoring nutzen lassen, anstatt transformative Effekte, die nicht quantifiziert werden können. Einmal, als ich als pädagogischer Kurator[3] für ein Museum arbeitete, schlug ich ein Projekt für die vermittlerische Präsentation als Ausstellung vor. Das brachte den Direktor (unter Beifall des Kurators) zu der Aussage: „Dies ist ein Museum, keine Schule“. Meine Reaktion (abgesehen von meiner Kündigung) war das Statement: „Das Museum ist eine Schule; die Künstler lernen zu kommunizieren, das Publikum lernt, Verbindungen herzustellen“. Mit Photoshop habe ich dieses auf die Fassade des Museums montiert und ihm das Bild geschickt – als Rache. Dann stellte ich fest, dass mehr dahinter steckt, und nun versuche ich, dieses Statement an so viele Museumsfassaden wie möglich zu bekommen, präsentiert als ein offizielles Statement der Museen.

Wo befinden sich die (institutionellen) Räume, in denen wir über unsere Kunst-Erfahrungen diskutieren können?
LC: Ich denke, das geschieht zumeist in den Seminarräumen der Universitäten. Das Problem ist: Wo auch immer es passiert, erwartet wird, dass man über persönliche Anekdoten, die eine Autobiografie konstruieren, spricht anstatt über die wirklichen Probleme/Themen der Gemeinschaft und deren Konsequenzen.

Inwiefern kann Kunstvermittlung dem Publikum einen Handlungsraum eröffnen?
LC: Kommt darauf an, wie es gemacht wird. Das Hauptziel sollte es sein, das Publikum auszurüsten, damit es den Menschen möglich wird, zu fragen, zu entmystifizieren, die Grenzen ihres eigenen Wissens zu erkunden und zu begreifen, wie diese Grenzen erweitert werden können. Das ist es, wo „art thinking“ (Kunst denken) wichtiger als „art making“ (Kunst machen) ist.

Wann findest Du ist Kunstvermittlung gelungen? Wann findest Du ist Kunstvermittlung schwierig?
LC: Kunst zu vermitteln hat, genauso wie Kunst machen und zeigen, viel mit dem Bewusstsein zu tun, dass es unendlich viele Öffentlichkeiten gibt, nicht nur eine. Und das Kommunikation fein auf das Publikum abgestimmt sein muss, das man erreichen möchte. Echter Erfolg ist unmöglich festzustellen, da der Maßstab dafür die Transformation ist – etwas, das dem Individuum nicht unbedingt bewusst ist; ein anderer Maßstab wäre das Ausmaß von kollektiven Kettenreaktionen. Wir reden hier von einer Auswirkung innerhalb der Kultur und nicht über unbeständige persönliche Antworten.

Gibt es eine spezielle Methode oder Strategie mit der Du aktuell arbeitest?
LC: Wenn ich mit fertigen Kunstwerken umgehe, versuche ich nicht mit dem Werk zu arbeiten, oder „hindurch“ zu sehen, sondern ich umrunde es/gehe um es herum und versuche zu verstehen, welche Bedingungen die Existenz dieser Arbeit unausweichlich und unverzichtbar gemacht haben. Das Publikum ist dann mit einem Problem konfrontiert, das es lösen muss. Sie sollten versuchen, es auf welche Art und Weise auch immer, zu lösen (Kunst oder Nicht-Kunst, das Wort „Kunst“ taucht bisher noch nicht auf). Damit ist das Publikum von Anfang an in den gleichen Prozess einbezogen, den die/der KünstlerIn hatte – und das macht sie eher zu KollegInnen, denn zu KonsumentInnen. Ich zeige ein Problem, das dem Werk vorangegangen sein mag, gefolgt von offenen Aufgaben, die mit dem Problem in Verbindung stehen, es aber nicht Kunst sein muss, an der gearbeitet wird. Erst, wenn das getan ist, zeige ich das Werk, das den Prozess ausgelöst hat. An diesem Punkt kann sich das Publikum dafür entscheiden, dass ihre Lösung die bessere sei, oder ist beeindruckt von dem, was der/die KünstlerIn gemacht hat, oder von der Tatsache, dass Kunst ein Medium war, um das zu tun. In jedem Fall entsteht ein horizontaler Dialog mit der/dem KünstlerIn und nicht einer, der vertikal und passiv, die Existenz eines bereits gefertigten Objektes akzeptiert.

Woran arbeitest Du gerade?
LC: Ich arbeite an einem Buch mit dem vorläufigen Titel „Art Thinking“, gemeinsam mit meinem Sohn Gabo Camnitzer (er lehrt an der Valand Kunsthochschule in Göteborg). Ich halte Vorträge und Besprechungen/Kritikrunden und ich bereite eine Retrospektive meiner Arbeiten für das Reina Sofía Museum in Madrid vor, die 2018 statt finden soll.

 

Luis Camnitzer ist ein Künstler aus Uruguay, der 1937 in Deutschland geborenen wurde und innerhalb seines ersten Lebensjahrs nach Uruguay immigrierte. Seit 1964 lebt er in den USA. Er ist emeritierter Professor der Kunst der State University New York, College Westbury. Er studierte Bildhauerei und Architektur an der Escuela de Bellas Artes, Universidad de la República in Uruguay. 1961 erhielt er das Guggenheim Stipendium für Druckgrafik 1961 und für visuelle Kunst 1982. 1965 wurde er Ehrenmitglied der Akademie Florenz. 1988 vertrat er Uruguay auf der Venedig Biennale. 1999 und 2003 nahm er an der Liverpool Biennale teil, im Jahr 2000 an der Whitney Biennale und 2003 an der documenta 11. 1998 erhielt er den „Latin American Art Critic of the Year“ Preis der Agentinischen Vereinigung der Kunstkritiker und 2002 den „Konex Mercosur“ Preis für Bildende Künste für Uruguay und 2011 den Frank Jewitt Mather Preis der College Art Association und den Literaturpreis für Kunstessays in Uruguay. 2012 erhielt er die Skowhegan Medaille und den USA Ford Fellow Preis. Er war pädagogischer Kurator der 6. Mercosur Biennale 2007. Seine künstlerischen Arbeiten finden sich in den Sammlungen von über 40 Museen, unter ihnen das Museum of Modern Art New York, das Museo de Bellas Artes Caracas, das Museo de Arte Contemporaneo Sao Paulo, Muso de Arte Latinoamericano de Buenos Aires und das Museo de Arte y Diseño Contemporáneo de Costa Rica. Er ist Autor der folgenden Bücher: “New Art of Cuba” (1994), Arte y Enseñanza: La ética del poder. (2000), Didactics of Liberation: Conceptualist Art in Latin America, (2007), On Art, Artists, Latin America and Other Utopias (2010).

[1] Die Übersetzung des Begriffs „education“ ins Deutsche ist nicht einfach, da sowohl „Erziehung“, als auch „Bildung“ damit gemeint sein kann. „The process of receiving or giving systematic instruction, especially at a school or university: a ‚course of education’ beschreibt das Oxford advanced Learner’s Dictionary „education“. Noch schwieriger wird das Wort „education/educación“ im Kontext von art/arte: „künstlerische Bildung“, „Kunsterziehung“, „Kunstvermittlung“ – keiner der Begriffe mag so recht greifen, insbesondere, wenn man Karl-Josef Pazzini hinzu zieht, der konstatiert: „Kunst existiert nicht, es sein denn, als angewandte.“ (Pazzini, 2000) Folglich existiert sie auch nicht als vermittelte. Im Sprachgebrauch hat sich jedoch „Kunstvermittlung“ oder „Kunstpädagogik“ durchgesetzt.
Das deutsche Wort „Vermittlung“ würde eigentlich „mediation/mediación“ lauten. Diesen Diskurs können wir innerhalb dieses Blogs nicht auflösen, zumal die AutorInnen ihre Worte innerhalb ihrer jeweiligen Fachkulturen und Diskurse artikulieren/formulieren. Wir wählen deshalb in der Übersetzung „Kunstvermittlung“ als Standard und weisen darauf hin, dass die Interviews immer auch im Original auf dem Blog verfügbar sind.

[2] Im Original: appreciation: Verständnis, aber auch Würdigung

[3] Kurator für Vermittlung

Veröffentlicht am 15. Februar 2016

Zitiervorschlag: Camnitzer, Luis (2016): „art thinking“. Interview, The Art Educator’s Talk. What does s/he say? Abrufbar unter: https://thearteducatorstalk.net/?interview=luis-camnitzer-art-thinking

Interview: Gila Kolb
Übersetzung: Gila Kolb, Konstanze Schütze
Abbildung: “The Museum is a School; the artists learns to communicate; the public learns to make connections.”, 2011. © by Luis Camnitzer.



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